“…aus Liebe” (frei nach der Arie Nr.49 aus der Matthäus-Passion von J.S. Bach) (2013/20114) für Streichquartett
UA: 1. 3. 2014 Rotterdam, Laurenz-Kirche, Doelen-Quartett

 

 


Iris ter Schiphorst, über ‚Aus Liebe…’

Über Koinzidenzen, Zufälle und Widerfahrnisse…

Wenn es stimmt, dass Komponieren aus einer Kette von Entscheidungen und somit allmählichen Eingrenzungen und Ausschlüssen besteht bin ich womöglich keine ‚richtige’ Komponistin. In mir verläuft der Prozess fast umgekehrt. Es sammelt sich im Verlauf der Arbeit mehr und mehr an, das vorgibt, zu dieser Arbeit zu gehören.

Das Beginnen einer Komposition ist für mich daher immer wie das Aufbrechen zu einer langen Wanderung in unbekanntes Gelände, bei der ich nur eine vage Ahnung habe von der grundsätzlichen ‚Gegend.
Bei einem solchen ‚Unterwegs-Sein’ gilt es auszuhalten, zunächst überhaupt keinen Überblick und keine Methode (vom griech. Methodos: ‚Durchweg, Hindurchweg’) zu haben…, die Wege nicht zu kennen und doch darauf zu vertrauen, dass sich irgendwann etwas nach und nach ‚ver-dichtet’, ‚er-zählt’.

Ganz am Anfang, quasi als Ausgangspunkt dieses Stückes stand die Begegnung mit Hans Woudenberg, dem Cellisten des Doelen Quartett, meinem ‚Auftraggeber’. Bereits bei unserem ersten Treffen gab es eine merkwürdige Koinzidenz. Hans hatte ein Buch dabei über Kirchenfenster und Glasmalerei, das er mir zeigen wollte. Das begeisterte mich, denn ich bin seit frühester Jungend von Kirchenfenstern fasziniert.
Wir waren uns schnell einig, dass das Stück irgendwie darauf Bezug nehmen sollte. Unser beider Faszination konnte kein Zufall sein. Wir phantasierten über mögliche Ähnlichkeiten zwischen Streichen mit dem Bogen auf den Saiten und dem Einfall von Licht auf Kirchenfenster… waren uns einig, dass unterschiedliche Streichtechniken das musikalische Material jeweils in ein anderes Licht tauchen könnten etc. Kurz und gut, wir waren beide sehr inspiriert von diesem Treffen und in mir kristallisierte sich eine erste vage Vorstellung von den Möglichkeiten des Stückes heraus.

Diese Vorstellung war verbunden mit einer deutlichen Vision eines Aufführungsortes: einem Raum mit einer großen Resonanz/bzw. einem großen Hallraum, ähnlich dem einer Kirche, in dem die differenzierte Bogenarbeit der Streicher deutlich‚räsonieren’ würde – einem Raum mit wunderschönen farbigen Fenstern, durch die das Licht hineinstrahlen und den Innenraum in verschiedenen Farben ausleuchten würde.
Dieses innere Bild war sehr stark.

Etwa zur gleichen Zeit wurde ich eingeladen in ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle als Dirigent, auf dem Programm stand die ‚Mathäuspassion’ von J. S. Bach in der Inszenierung von Peter Sellers. Faszinierend! - darin die Arie der Maria Magdalena: ‚Aus Liebe’ mit dem grandiosen Vorspiel der drei Holzbläser.
Ein extremer Eindruck! Im Moment des Hörens wusste ich, dass diese Arie ‚Aus Liebe’ irgendwie einfließen würde in meine Arbeit, in irgendeiner Weise eine Verbindung bilden können würde zu den bisherigen Überlegungen, als ein Scharnier zwischen Innen und Außen, zwischen meinen bisherigen Visionen und ‚der Welt’, (so wie die farbigen Kirchenfenster ein Scharnier darstellen zwischen Innen und Außenraum), eine Brücke, die mir würde helfen können, tiefer einzutauchen in den Prozess meiner Komposition.
Sogleich fing ich an, Vorspiel und Arie zu analysieren und bearbeiten, erstellte Krebse, Spiegelungen etc. , augmentierte, diminuierte, transponierte – d.h. wendete all diese Verfahren, all diese Methoden an, die erfahrungsgemäß einen ‚Weg’ bahnen zu können, für einen Überblick sorgen zu könne vorgeben. Aber…das brachte mich zunächst überhaupt nicht weiter. Das war es noch nicht.

Inzwischen hatte ich Hans Woudenberg meinen Arbeitstitel verraten: ‚Aus Liebe’… Oh je -, welch voreilige Entscheidung (die ich später so manches Mal bereute). Nun musste ich diese zwei Worte ernst nehmen als ein Bezugsfeld meiner Arbeit…

Ich ‚wanderte’ weiter, stieß u.a. auf Weberns Streichquartett, opus 28, das mir durch seinen Bezug zu Bach irgendwie auch zu meinem Projekt zu gehören schien.

Zwischendurch schob sich jedoch immer wieder ein ganz anderer Umstand mit hinein in meine Gedanken, nämlich der, für ein holländisches Quartett zu schreiben, Aufführungen zu haben in Rotterdam und Den Haag… Das war für mich etwas ganz Besonderes. Ich lebe zwar fast mein ganzes Leben in Deutschland, habe aber auch holländische Wurzeln: Mein Vater und seine ganze Familie kommen aus Holland und daher habe ich nicht nur einen holländischen Namen, sondern auch einen holländischen Pass. Immer wieder kamen in dieser Zeit Bilder aus meiner Kindheit in mir hoch, meine Großeltern in Wassenaar, der weite Strand, aber auch Erzählungen meines Vaters aus seiner Kindheit und Jugend, zunächst in Deutschland aufgewachsen und 1939 mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern nach Holland geflohen.
Und plötzlich bekam der Arbeitstitel ‚aus Liebe’ einen ganz anderen Unterton. Plötzlich merkte ich, dass ich das Stück auch für meinen Vater schreiben würde und wollte, der doch schon seit einigen Jahren tot ist. Über den ich so gern noch viel mehr gewusst hätte. ‚Aus Liebe’ hatte plötzlich auch diesen Unterton für mich, die Liebe zu meinen holländischen Wurzeln, die Liebe zu meinem holländischen Vater.
Dann – ich war beruflich in Slowenien – sah ich im dortigen Fernsehen ganz zufällig eine Reportage über den holländischen Hungerwinter. Den holländischen Hungerwinter? Ich hatte noch nie davon gehört. Ich recherchierte diesen Begriff … und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, ja… es muss der Winter gewesen sein, von dem mein Vater zwischendurch immer mal wieder Geschichten erzählt hatte, die mir als Kind außergewöhnlich und abenteuerlich vorkamen, z. B. die, wie er zusammen mit seinem Bruder nachts in der Erde nach Tulpenzwiebeln gegraben, oder nach Holz oder nach irgendetwas brauchbaren gesucht hatte … Und plötzlich sah ich diese Geschichten, die mir wie eine abenteuerliche Phase in der Pubertät meines Vaters vorgekommen waren, in einem ganz anderen Licht.
Ich war schockiert von dem, was ich plötzlich zu sehen meinte, nicht die spannenden Abenteuergeschichten, für die ich diese Erzählungen immer gehalten hatte, sondern etwas ungleich Existentielleres: eine brutale Erwachsenengeschichte, in der es um Leben und Tod ging. Warum hatte ich bis dahin nichts Genaueres darüber gewusst, warum war mir das Ausmaß dieser Geschichten überhaupt nicht bekannt gewesen, warum hatte ich sie bis dahin lediglich als für uns Kinder etwas ausgeschmückten Anekdoten meines Vaters in Erinnerung, die ich als Kind spannend fand und später unwichtig… holländischer Hungerwinter.. .plötzlich verdunkelte sich das Stück und ich wußte, auch das würde irgendwie dazu gehören müssen in dieses Projekt, auch das müsste da mit hinein.
Wie sollte ich das bewerkstelligen?
Wie sollte ich all die Ver-dichtungen all dieser Eindrücke, all diese Widerfahrnisse, all diese Koinzidenzen oder Zufälle in Zeichen setzen, in Musik überführen? Eine Unmöglichkeit, für die die Schrift zu klein ist. Für die jedes Zeichen zu klein ist. Nichts als eine unwiderrufliche Reduktion. Aber ohne Zeichen verschwindet auch das Andere. Der Prozess, die Ver-dichtung. Der Raum der Gleichzeitigkeit, die Koinzidenzen. Die Übersetzung muss irgendwie geleistet werden. Es müssen Zeichen gefunden werden. Ein zum Teil unerträglicher Zwang. Denn die Zeichen sind nie ‚richtig’, sind niemals komplex genug. Bedeuten Ausschluss. Oder anders gesagt: Jedes Zeichen ist nur ein Hinweis für all das nicht in Zeichen gesetzte, für das Unsagbare, das dahinter steht und doch da ist. Für all das, was für immer unwiderruflich verborgen bleibt, nicht zum Ausdruck kommt.

Also gut: Ich musste sortieren, um– und aussortieren. Ich musste mich entscheiden. Festlegen. Das Stück sollte ja fertig werden.
Ich entschied: Diese wunderschöne Arie ‚aus Liebe’ würde mich zwar noch weiter begleiten, aber nicht mehr in ihrer realen musikalischen Gestalt; nur noch ein paar wenige Anklänge in der Form ihres Krebs sollten übrig bleiben, als Erinnerung eines überaus starken Ein-Drucks, der aus mir heraus in verwandelter Form zurückgeworfen würde in den Raum der Musik. Und ein paar Zahlen daraus würden übrig bleiben: die 7 zum Beispiel. Es gibt darum in meinem Stück 7 kleine Soli für Bratsche, überschrieben mit ‚Das Weinen der M.M’.

Und auch der Text ‚Aus Liebe’ würde auf versteckte Weise Eingang finden in meine Arbeit: Übertragen ins Morsealphabet, als quasi strukturelles Element, das in einer bestimmten Passage den Rhythmus bestimmt.

Was noch? Das ‚Verdunkeln’, d.h. die Entscheidung, die tiefe C-Saite des Cellos um eine Oktave nach unten zu stimmen. Aber auch: Die Bogenführung hier in den Mittelpunkt zu stellen, in Anlehnung an das erste Gespräch mit Hans…

So ist das Stück allmählich in seiner jetzigen Form entstanden…Aus einem Ansammeln, einem Zuviel…

Ist dieses ‚Zuviel’, ist diese Form der Ansammlung von Erlebnissen und Gegebenheiten, von Koinzidenzen und Widerfahrnissen zufällig, aleoatorisch? Ist diese Art zu arbeiten ‚beliebig’? Ich weiss es nicht.
Mir kommt es eher so vor, als würde mein ‚Ich’ - oder genauer: mein Wahrnehmungsapparat, mein Bewusstsein wie ein Fenster sein, durch das irgendein Licht womöglich zufällig in mich hineinfällt, von dort aus seine Wege nimmt in mir und zwar dann, und wahrscheinlich nur dann, wenn der Eindruck ‚stark’ genug ist…Dann kann es sein, dass etwas in mir ‚wiederhallt’ bzw. räsoniert, dann kann es sein, dass etwas zurück- bzw. aus mir heraus geworfen werden will; warum und weshalb ist womöglich niemals wirklich begründbar..
Aber selbst wenn es zufällig ist, so ist es doch einmalig. Meine Wahrnehmung ist einmalig, so wie Ihre, so wie die eines jedes Menschen. Die Wahrnehmung ist das einzig wirklich individuelle, das, was ‚uns’ ausmacht, was uns bleibt – zumindest bis jetzt. Und selbst wenn die Wahrnehmung mehr und mehr manipuliert werden wird, kurzgeschlossen mit virtuellen Welten, so bleibt doch die Hoffnung auf einen Rest, der nicht aufgeht. Einen Rest, der ‚eigen’ ist.
Das zu zeigen ist womöglich auch Aufgabe von Kunst.

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