Berlin: Symphonie einer Großstadt (mit Helmut Oehring) (2001/2002)
für großes Orchester und Film(UA: 10. April 2002, Berlin, Staatsoper Unter den Linden, Symphonierochester des Südwestfunks,Leitung: Roland Kluttig)Dauer: 70 min.


genaue Besetzung:3 fl, 2 ob, 2 clar in B, 2 bass-clar in B, 4 trpt, 4hrn in F, 3 trmb, 1tb, 3 perc, prepared piano, sample-keyboard, harp, e-guitar, e- bass, 10 vln I, 8 vln II, 8 vla, 8 vc, 6 doublebass


Regie: Thomas Schadt, Arabella Musikverlag

  

  


       



Synopsis:
Berlin befindet sich heute, im zweiten Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer, in einer einzigartig lebendigen und spannenden Phase von Aufbruch und Umbruch. Spuren der Geschichte treffen energiegeladen auf eine neu entstehende Stadt. Genau der richtige Moment, meint der Dokumentarfilmer Thomas Schadt, um Walter Ruttmanns Filmklassiker “Berlin. Die Sinfonie der Großstadt” neu zu interpretieren.75 Jahre nach Ruttmanns aufsehenerregendem Werk ist im Auftrag des SWR eine neue Berlin-Sinfonie entstanden, die unübersehbar an ihr Vorbild anknüpft: ein Stummfilm in Schwarzweiß; eine Klang- und Bildsinfonie, in der Musik und Film gleichberechtigt nebeneinander stehen und sich zu einem gemeinsamen Ganzen verbinden.Auch Schadt spürt, einem Tagesablauf folgend, dem Motiv “Stadt” nach und findet es an den unterschiedlichsten Orten: Bei der Silvesterfeier am Brandenburger Tor und der Beobachtung von Menschen bei der Arbeit und in ihrer Freizeit; in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, im Reichstag und bei der Raubtierfütterung im Zoo.Die Neufassung mit dem leicht veränderten Titel “Berlin: Sinfonie einer Großstadt” ist indes kein bloßes Remake: Der ungetrübten Faszination, die Berlin auf Walter Ruttmann ausübte, setzt Schadt seine eigene Sichtweise der Stadt entgegen. Und die Musik von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring, die keine Sinfonie im klassischen Sinne mehr sein will, reflektiert die Brüche von 75 Jahren Geschichte ebenso wie die Bild- und Erzählsprache der neuen “Sinfonie”. So zeigt der Film die Stadt von heute: 75 Jahre älter, voller Geschichte und Vitalität, Eleganz und Hässlichkeit. Eine ausgezeichnete Hauptdarstellerin für seinen Film, meint Schadt: “Die Stadt ist voller Pickel. Sie pubertiert. Und diese Zeit, in der Altes verwischt wird und Neues entsteht, ist doch die spannendste.”
Text & Foto: SWRBerlin: Sinfonie einer Großstadt ist ein Schwarz-Weiß-Film, der 2002 nach dem Drehbuch und unter der Regie von Thomas Schadt gedreht wurde und eine Reverenz an Walter Ruttmanns legendären Dokumentarfilm Berlin: Die Sinfonie der Großstadt von 1927 ist. Er hat eine Länge von 77 Minuten.Der dokumentarische Film beschreibt einen Tag in der Großstadt Berlin und orientiert sich dabei am 1927 von Walter Ruttmann gedrehten Schwarz-Weiß-Stummfilm Berlin: Die Sinfonie der Großstadt, der ebenfalls, musikalisch untermalt, einen Tag der Großstadt Berlin schildert. Wie bei Ruttmann orientiert sich auch Schadts Film an der Spannungskurve einer Symphonie, die hier allerdings viel flacher ausfällt. Die Aufbruchsstimmung und Hektik der 1920er Jahre, die den Rhythmus des Vorgängers dominieren sind weitgehend einer gewissen Melancholie gewichen. Der Film interpretiert Ruttmans Ansatz neu und zeigt die Brüche und Wunden, die Berlin in Folge des Krieges und der darauffolgenden Jahre gesellschaftlich wie im Stadtbild erlitten hat.


Presse

DER SPIEGEL:
„Passagenweise erscheint Schadts Film wie eine auf Hochtouren beschleunigte Berliner Jahreschronik: Silvester, Sechstagerennen, Karneval der Kulturen, Love Parade.“


Lydia Jeschke:Musik der Stadt
Das urbane Orchester von Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst

Verwirrung der Sinne und Strukturen: ein geschäftiges Treiben erscheint plötzlich als gespannte Erwartung. Ein freudiger Tumult mündet ins Leere. Ein leerer Platz gerät in Hektik. Ein konkreter Augenblick dehnt sich ins beinahe Zeitlose.Oft genug steht die Musik Helmut Oehrings und Iris ter Schiphorsts mit ihren statischen, langausgehaltenen Klängen, ihren plötzlichen Pausen, den davoneilenden Tongirlanden oder groovenden Wiederholungsschleifen zu den Bildern von Thomas Schadt im rhythmisch spannungsreichen Widerspruch. Es scheint, als erhebe sie Einspruch gegen die eine, die sorgfältig ausgewählte, kunstvoll eingefangene und im Ergebnis scheinbar selbstverständliche Perspektive, anders gesagt: gegen den – durch das Kameraauge wie auch das menschliche Gesichtsfeld immer eingegrenzten - Blick auf die Stadt. Und tatsächlich: wie sprechend auch die einzelnen Szenerien, wie vielfältig die Assoziationen, die die Montage auslöst, wie eindrucksvoll auch die Variationen der Bild-Geschwindigkeiten – für den Zuschauer des Films, den Betrachter der Bilder bleibt es ein visuelles Nacheinander, eine Reihung einzelner Eindrücke. Im fokussierenden Schauen, im zeitlich geordneten und räumlich klar strukturierten Wahrnehmen liegt die Kompetenz des Auges.

Hörsinn
Die Kompetenz des Ohres dagegen liegt in seiner Richtungslosigkeit. Wo das Auge sich für Perspektiven entscheidet, ist das Ohr offen in alle Richtungen. Es kann Gleichzeitiges hören, verarbeitet unterschiedliche Informationen von rechts und links, vorne, hinten, oben oder unten, verbindet Klänge aus verschiedensten Quellen zu simultanen Ereignissen oder unterscheidet gerade die Bewegungen unterschiedlicher Tempi, unterschiedlicher Richtungen.Simultaneität und Mehrschichtigkeit sind die Stichworte. Komponisten des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sprechen in logischer Konsequenz auch vom Multiversum, das es – statt des alten Universums – hörend zu entdecken gilt.Auf der Ebene des menschlichen Zusammenlebens bildet die Stadt ein solches Multiversum der Überlagerungen und perspektivischen Vielfalt. Das Ohr erscheint prädestiniert dazu, dies aufzunehmen und zu begreifen.

Abstraktion
Die Macht der Musik liegt in der Abstraktion. Wo der Film Konkretes zeigt, kann sie verallgemeinern, in größere Kontexte stellen, Emotionalitäten erfinden, Distanz oder Nähe schaffen, deuten, hinterfragen und überhöhen. Die Musik – zumal diejenige, die ohne Texte, sinnbefrachtete Zitate oder klar semantische Geräusche auskommt – zielt über das Jeweilige, Einzelne hinaus, ihre Ausdrucksweise prägen Strukturen, Gesten, Bewegungen – die einzelne, konkrete Klarheit der Bilder gerät dadurch in Schwingung.Dieses (im Erzählkino an exponierter Stelle der Handlung eingesetzte) Potential der Filmmusik nutzt die Musik zum dokumentarischen Stummfilm „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ durchgängig und auf exemplarische Weise. Nur ein paar Beispiele:Die den optischen Knalleffekten des Feuerwerks zu Beginn des Films entgegenkomponierte, bewegungsarme Musik der langausgehaltenen Klänge lässt den Betrachter-Hörer zweifeln: Handelt es sich tatsächlich um ein fröhliches, festliches Feuerwerk? Oder überwiegt eher die gespannte Erwartung auf Kommendes? Weiß die Musik mehr, als das Auge sieht? Die Tatsache, dass Musik und Bilder hier nicht dasselbe sagen, ermöglicht Reflexionen, womöglich auch eine eigene Stimmung des Betrachters, die der sichtbaren (ausgelassen feiernde Menschen) entgegenstehen kann. Es ist, als erhielten die Schwarz-weiß-Bilder statt der optischen eine Klang-Färbung.An anderer Stelle verbinden Wiederholungen in der Musik Bilder aus der industriellen Produktion mit Aufnahmen von Touristen am Alexanderplatz. Der so geschaffene Zusammenhang könnte heißen: „dieses beides geschieht zur selben Zeit“ – oder auch: „beide Tätigkeiten (Industriearbeit und Sightseeing) folgen denselben Prinzipien“. Die Bilder werden musikalisch gedeutet – indem die Klänge optisch Verschiedenes als verwandt entlarven. Was der Film durch die Ordnung und Rhythmisierung der Sequenzen schon vorbereitet, wird hier durch die Musik manifestiert. So sind es auch formale Analogien in der Musik, die das Hin- und Herfliegen des Balles in einem Tennisturnier mit einer politischen Rede im Bundestag in Beziehung setzen, die also das politische Reden als sportives Match interpretieren.Im Gegenzug zu dieser musikalischen Parallelisierung verschiedener Szenen werden andererseits einzelne Bilder mit musikalischen Mitteln isoliert und akzentuiert: Im filmisch festgehaltenen Augenblick eines Kusses hält die Bewegung in der Musik plötzlich an. Eine akustische Generalpause enthebt diesen Moment gleichsam dem „normalen“ Zeitverlauf und damit dem alltäglichen Geschehen.

Gestik
Abstraktion und Multiversum – diese beiden Grundpfeiler des musikalischen Hörens und Gestaltens verbinden sich bei den Komponisten Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst mit speziellen Verfahrensweisen. „Für mich ist Sehen wichtiger als Hören.“, sagt Helmut Oehring, der als Sohn gehörloser Eltern aufgewachsen ist: „Sehen ist für mich an Sprache gekoppelt, an Kommunikation, an Mitteilung. Ich denke und träume in Gebärden.“ Die Übersetzung vom Optischen ins Akustische, von sichtbarer in hörbare Sprache ist damit ein grundlegendes und existentielles Thema in Oehrings Denken. Ebenso die Suche nach Gemeinsamkeiten, Äquivalenten, strukturellen Bedingungen der Sprachen. „Mein Anknüpfungspunkt besteht darin, die verschiedenen Bewegungen, die mit der Grammatik, der Gebärdensprache zu tun haben, die Gleichzeitigkeit der körperlichen und mimischen Bewegungen, die ja Bestandteile dieses Sprachsystems sind, in Musik zu übertragen. Die Gleichzeitigkeit und die Unterschiedlichkeit einer Augenbrauenbewegung und zugleich von mehreren Armbewegungen, die ein Wort ausmachen, das sich gerade im Raum bildet, und dessen Zeitverlauf – das ist es, was mich kompositorisch interessiert.“Vielleicht liegt hier die Basis für das betont Gestische in Oehrings Musik, in der die in Musik transformierte und damit abstrahierte Geste verbindendes Extrakt der sicht- und hörbaren Kommunikation ist. Oehrings und ter Schiphorsts jüngste Gemeinschaftskomposition etwa betrachtet eine einzige Geste aus stimmlicher, gebärdender und musikalischer Perspektive: das „rumgammeln + warten“, das dieser Komposition auch den Titel gegeben hat.Die simultane Mehrschichtigkeit, die Oehring an der Kommunikation in Gebärdensprache interessiert und die zugleich die spezielle Kompetenz des Hörsinns charakterisiert, korrespondiert auf der Ebene der Produktion einem mehrschichtigen Entstehen der Musik, wenn Oehring und Iris ter Schiphorst gemeinsam komponieren. Gemeinsam: das heißt in erster grober Absprache, dann an getrennten Schreibtischen, schließlich im Dialog. Das von den Komponisten immer wieder konstatierte “Staunen, dass sich Dinge trotzdem und erst recht gemeinsam ausdrücken lassen” wird im Entstehungsprozess von „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ noch erweitert um den Austausch mit dem parallel arbeitenden Regisseur Thomas Schadt. Die „Sinfonie“ – das heißt: das Zusammenkommen und Zusammenklingen von Verschiedenem - entsteht auf mehreren Ebenen.

Orchestrales Arbeiten
Das Sinfonie-Orchester, dessen Vielstimmigkeit es durch die Komponisten ebenso zu strukturieren gilt, wie es die vielschichtige Akustik der Stadt vom Ohr des Passanten fordert, erscheint als logischer Vermittler der künstlerischen Berlin-Reflexion. Indem Oehring/ter Schiphorst überwiegend auf sein traditionelles Instrumentarium zurückgreifen, das sie nur um wenige Instrumente einer Rockband erweitern, nutzen sie neben dem akustischen Perspektivenreichtum, den das Orchester bietet, auch seine Möglichkeiten zur Abstraktion: nicht urbane Alltagstöne sind die Basis der Filmmusik, sondern artifizielle Klänge.Die durch die Orchesterpartitur geschaffene Distanz zu den realen Geräuschen (die ja auch der Film als Stummfilm komplett verschweigt), die Abstraktion und Übertragung des städtischen Klanggeschehens in orchestrale Gesten gewinnt gerade in jenen seltenen Momenten eine schlagende Deutlichkeit, in denen die Autoren sie durchbrechen: Einmal gerät zu Gitarrenklängen am Rande eines Platzes ein Mann ins Bild, der „Luftgitarre“ spielt – also die zum Klang mehr oder minder passenden Bewegungen ausführt. Wie in einer Andeutung der ansonsten vermiedenen simplen Verdopplung begegnen sich hier Bild und Klang, um sich sogleich wieder – ins Vielgestaltige, Mehrschichtige und Abstrahierende – voneinander zu lösen.So wie die Musik Oehrings und ter Schiphorsts nicht zuletzt auch optische Eindrücke und Gesten übersetzt, nimmt umgekehrt der Film Anleihen bei musikalischen Strukturen: wie in klassischer Sinfonik arbeitet er mit Themen, Sequenzen, Wiederholung und Variation; und sein vielleicht wichtigstes Gestaltungselement ist der musikalische Rhythmus der Bilder.Musik und Film verdeutlichen die unterschiedlichen Kompetenzen von Auge und Ohr, zeigen aber auch die möglichen Verbindungen beider Wahrnehmungsformen, ihr Wechselspiel und ihre gegenseitige Einflussnahme – auf der gemeinsamen Suche nach der Sinfonie der Stadt.„Für die allein bildlichen Möglichkeiten eines Films“, schränkt Helmut Oehring ein, „sind die Strukturen einer Sinfonie zu komplex.“ Sinfonische Musik im allgemeinen ist dagegen allzu oft und immer noch von dem Wunsch getragen, die urbane Lebenswelt aus dem Konzertsaal fernzuhalten – einem Wunsch, der die große Parallelität der Strukturen verkennt.Ein jüngst erschienenes musikdidaktisches Kinderbuch erzählt exemplarisch die Geschichte eines Mannes, der es in der großen Stadt nicht aushält: Im lärmenden Durcheinander verschwindet alle Musik aus seinem Kopf. Der Mann kauft sich also ein großes einsames Haus auf dem Lande, und er vermietet alle Wohnungen und Zimmer an Musiker, die alsbald das Haus fleißig mit Tönen füllen. Doch wieder stellt der Negativ-Effekt sich ein: auch im musikalischen Durcheinander bleibt dem Mann nur ein unglücklich dröhnender Kopf. Erst als sich schließlich alle zum Orchester zusammenfinden und aus dem Mann ein Dirigent geworden ist, entsteht: Musik.Ob und wie aber die Musik wieder in die Stadt zurückkommt, erzählt das Kinderbuch nicht mehr. Helmut Oehrings und Iris ter Schiphorsts „Sinfonie einer Großstadt“ zeigt, dass sie eigentlich immer schon dort ist.


Interview mit Iris ter Schiphorst (geb. 1956), die gemeinsam mit Helmut Oehring die Musik zu der neuen Berlin-Sinfonie komponiert. Das Gespräch führte Lasse Ole Hempel am 17. Juli 2001 in Berlin. zur Word Datei

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