Vorträge von Iris ter Schiphorst


Iris ter Schiphorst: Warum ein Stipendium für Künstlerinnen? Vortrag gehalten auf der Abschlussveranstaltung auf dem Künstlerhof Die Höge, MS, 2004.


Iris ter Schiphorst: Die stillschweigende Verschaltung von Stimme und Schrift, Vortrag in der Galerie Waszkowiak Berlin, MS, 2000

Iris ter Schiphorst: Musikwissenschaft als Geisterwissenschaft, oder: Das Ver-Sprechen von SOUND. Vortrag auf dem 9th International Congress on Women in Music, MS, 1995.


Iris ter Schiphorst: Vom Ohrsinn und Unsinn / Der Blick in der Musik. Vortrag in der West-Berliner Akademie der Künste, MS, 1994.



Iris ter Schiphorst: Einige Anmerkungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift, Vortrag an der Humboldt Universität Berlin, MS, 1997




EINLEITUNG
Das Verhältnis von Schrift und Klang, bzw. Schrift und Laut bleibt von der neueren Medientheorie, die sich stark auf das Verhältnis von Schrift und Bild konzentriert, weitgehend unbeachtet. Die ist um so erstaunlicher, als es sich bei ‚unserer‘ Schrift um eine phonetische Schrift handelt, deren Buchstaben Laute bezeichnen. Im abendländischen Kulturkreis sind Stimme und Schrift auf diese Weise von Anfang an miteinander ‚verschaltet‘.
Daher ist es uns so erstaunlicher, daß in all den Debatten um die Bedeutung  der Schrift  das Auditive, bzw. die Rolle des ‚Hörsinns‘ fast immer vernachlässigt wird und der Focus immer wieder nur auf den Zusammenhang von Bild und Schrift und damit auf das Visuelle  gerichtet wird. Mag das im Kontext der neuen Medien noch halbwegs einleuchten, so ist diese Fixierung dort, wo es mehr oder weniger ausschließlich um das Medium Schrift geht nicht mehr wirklich einsehbar.

Schon 1976 hat Don Ihde darauf hingewiesen, daß die (lesenden) Augen ja gar nichts wirkliches sehen, zumindest nichts aus dem Bereich der Sichtbarkeit, sondern, sofern sie verstehen wollen, Schrift ‚hören‘, bzw. sprechen müssen. (Er spricht in diesem Kontext von einer doppelten Reduktion des Sehens.)

Der Musikwissenschaftler Wolfgang Scherer erklärt sich diese Fixierung auf die Visualität im Kontext von Schrift und  damit die ‚Mißachtung‘ der Rolle des Hörens, bzw. des Auditiven durch die ganz besondere Verbindung, die Stimme und Schrift - und damit auch Hören und Sehen in der alphabetisch- phonetischen Schrift eingehen; eine Verbindung, von „der die Schrift schweigt“, und die sich dennoch oder gerade deshalb in unserer Schriftkultur bereits so sehr in die Körper eingeschrieben hat, daß  sie geradezu ‚natürlich‘ scheint - und eben darum kaum mehr reflektiert wird…

Um genau diese Verbindung, um diese Schnittstelle von Hören und Sehen  i n  der Schrift wird es im Folgenden gehen.

Dazu möchte ich zunächst einige – zugegebenermaßen etwas provozierende Thesen in den Raum stellen. Eine davon  lautet, daß in ‚unserer‘ abendländischen Schriftkultur – zumindest bis zum Aufkommen der visuellen Medien -  in gewisser Weise das Hören eine größere Rolle spielt, als das Sehen, da sie ihren Ausgang nimmt von auditiven Zeichen.
In einer weiteren These behaupte ich, daß die Geschichte der Schrift, genauer: daß die Durchsetzung des phonetischen Alphabets mit der Verdrängung einer ganz bestimmten Form von  Visualität und Sprache einhergegangen ist  - und nicht etwa mit einer Intensivierung und Ausweitung des Visuellen, wie z. B. Mac Luhan in seinem 1965 erschienen Buch ‚understanding media‘ behauptet. Dort heißt es: „Als eine Intensivierung und Ausweitung der Funktion des Visuellen läßt das phonetische Alphabet die anderen Sinne, den Gehörsinn, den Tastsinn und den Geschmacksinn, in jeder alphabetischen Gesellschaft an Bedeutung verlieren…“

Und schließlich und endlich möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht die Phonetisierung, die ‚Verlautung‘ der Schrift eine ‚Phonetisierung‘, eine Verlautung der Sprache nach sich gezogen hat – so seltsam sich das zunächst hier anhören mag.

Um diesen Behauptungen nachzugehen, möchte ich zunächst kurz über die ‚Geschichte‘ der Schrift sprechen. Dafür werde werde ich mich u. a. auf den Paläontologen Leroi-Gourhan beziehen, dessen Werk ‚Hand und Wort‘ aus dem Jahr1965 den Anstoß  gab für Derrida‘s ‚Grammatologie‘ sowie ‚Die Stimme und das Phänomen‘ (beide aus dem Jahr 1967).
Ganz kurz möchte ich in diesem Zusammenhang auch den Orientalisten I. J.  Gelb zu Wort kommen lassen, dessen Erstausgabe seines Buches ‚A study of writing, The Foundations of Grammatology “ aus dem Jahre 1952 Derrida zur Verwendung des Begriffs ‚Grammatologie‘ inspirierte. Des weiteren möchte ich auf die Archäolgin Denise Schmandt-Besserath und eingehen, die mit ihren Thesen über den Ursprung der Schrift und den sogenannten ‚Tokens‘ für Furore gesorgt hat, sowie auf den Amerikaner Robin Elliot, der wiederum versucht hat, die Herkunft der Buchstaben mit Hilfe der Artikulation der Buchstaben,  der Mundbewegungen bei der  Artkulation zu erklären.

Darüberhinaus möchte ich jedoch einen ganz anderen Gegenstand in diesen Kontext einbringen, einen Gegenstand, der auf den ersten Blick etwas exotisch anmutet; die ‚Gebärdensprache‘.
Das möchte ich im Folgenden kurz begründen:
Von der Informationstheorie wissen wir, daß es ratsam ist, Systeme nicht nur in ihrer Immanenz, sondern auch von Außen zu betrachten. Dafür ist es jedoch notwendig, zwei verschiedene Systeme miteinander zu vergleichen. Denn erst im Vergleich - und Kontrast mit einem anderen System wird ein vermeintlich in sich geschlossenes  tatsächlich beschreibbar. In diesem Sinne bietet sich Gebärdensprache durchaus als eine Art ‚Vergleichsobjekt‘ an – bei allen Schwierigkeiten, die ein solcher Vergleich nach sich zieht (ich werde noch darauf zu sprechen kommen). Denn Gebärdensprache operiert ausschließlich mit visuellen Zeichen – im Gegensatz zu unserer Sprache. Das heißt, sie bezieht sich ausschließlich auf das Sehen. Trotzdem  - oder vielleicht gerade deshalb? – besitzt sie bis heute keine eigene einheitliche Schrift, obwohl seit den 80iger Jahren intensiv an verschiedensten Ecken der Welt an einer Verschriftlichung der Gebärdensprache geforscht wird.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einige kurze Sätze über Gebärdensprache einfügen, da ich nicht weiß, ob Gebärdensprache hier bekannt ist.

Was ist ‚Gebärdensprache‘?
Gebärdensprache wird über das Auge erworben; ihr ‚Sprechapparat‘ besteht aus einem Komplex verschiedener Stellungen, Bewegungen und Positionen der Finger, Hände und Arme im Raum und ihre grammatischen Feinheiten drücken sich u.a. durch die Stellungen der Augenbrauen, der Augen, des Mundes und der Wangen aus.

Gebärdensprache macht sich auf allen Ebenen den Raum linguistisch zu Nutze, auf der lexikalischen, der grammatischen und der syntaktischen Ebene. Diese Nutzung ist unglaublich komplex, und vieles, was die Lautsprache linear, also nacheinander ausdrücken muß, kann Gebärdensprache simultan erzählen.
Eine einzelne Gebärde kann durch Handform, Handstellung, Ausführungstelle (also wo sie ausgeführt wird), Bewegung und durch nichtmanuelle Komponenten  (also durch Mimik; Mundbild etc.) gleichzeitig modifiziert werden.
Somit kann „in eine einzigen Gebärde (..) eine Menge linguistischer Informationen gepackt werden, für die in einem gesprochenem Satz mehrere Wörter erforderlich wären.“ (Penny Boyes Braem, 1995 S.52)
Dadurch ist das Produktionstempo (als der äußerlich wahrnehmbare Formulierungsvorgang) eines Satzinhaltes in Gebärdensprache etwas schneller ist als in Lautsprache, obwohl das Produktionstempo der einzelnen Gebärden langsamer ist, als das der einzelnen ‚gesprochenen‘ Worte.

Gebärdensprache folgt weniger der Dreierstruktur von Subjekt-Verb-Objekt, als der hierarchischen Struktur des Thema-Rhema (bzw. Topic-Comment) Prinzips. Das heißt, es wird zunächst das Thema oder der zentrale Bezugsgegenstand genannt und daran anschließend Erläuterungen, Erweiterungen oder Kommentare vorgenommen.
Modi, also die verschiedenen Zeiten (in unserer Terminologie Präsenz, Imperfekt, Futur etc. )   werden in der Gebärdensprache ebenfalls räumlich dargestellt. Dabei wird in vielen Gebärdensprachen eine imaginäre Linie als ‚Zeitlinie‘ benutzt, die von hinten durch den Körper nach vorn verläuft (Vergangenheit hinter dem Körper, Gegenwart an der Seite und Zukunft vor dem Körper).

Allein diese kurzen Ausführungen zeigen, wie verschieden voneinander Laut- und Gebärdensprache sind. Oliver Sacks behauptet:

„Der Unterschied zwischen äußerst verschiedenartigen Lautsprachen ist klein im Vergleich zu dem Unterschied zwischen Laut- und Gebärdensprache.“

Diese fundamentale Verschiedenartigkeit war für lange Zeit auch eine der großen Schwierigkeiten in der Gebärdensprachforschung, und einer der Hauptgründe dafür, daß die Grammatik, die sprachliche Struktur der Gebärdensprache nicht erkannt wurde, selbst nicht von Gehörlosen, obwohl sie natürlich implizit die Regeln der Gebärdensprache beherrschten.
Dazu kam, daß in den Forschungen das Referenzmodell immer Lautsprache war und zwar fast immer vom Typ der indo-germanischen . Das heißt, es wurde nach Kategorien, nach grammatischen Strukturen gesucht, die dem indo-germanischen Typus der Lautsprache entlehnt waren, ungeachtet der Tatsache, daß diese Kategorien möglicherweise überhaupt nicht auf Gebärdensprache zutreffen würden.

So betont zum Beispiel der gehörlose Sprachforscher Papaspyrou, daß zwar in den meisten Sätzen beliebiger Gebärdensprachen Zeichen existieren, die der syntaktischen Rolle des Subjekts, Objekts und des verallgemeinerten Verbs – wie sie in den Lautsprachen verstanden werden -  ähneln, daß jedoch diese Zeichen letztendlich nichts mit der der Lautsprache entsprechenden Auffassung von Substantiv, Verb, Subjekt  und Objekt etc. zu tun haben.

Erschwerend kam noch hinzu, daß ‚Laut-Sprache‘ nicht nur Referenzmodell, sondern immer auch gleichzeitig beschreibende, bzw. Meta-Sprache war und ist.

So nimmt es auch nicht Wunder, daß bis vor kurzem die Definition von Sprache einzig auf die Lautsprache ausgerichtet war. In der von dem amerikanischen Linguisten George Trager stammenden Definition in der Enyclopedia Britannica heißt es zum Beispiel immer noch :
„Eine Sprache ist ein System willkürlicher stimmhafter, Symbole, vermittels derer die Mitglieder einer Kultur alle Aktivitäten dieser Kultur ausführen.“
Wegen dieser Einseitigkeit regte1989 Stokoe jedoch an, das Wort ‚stimmhaft‘ aus dieser Definition zu streichen. Dadurch heißt es:
„Eine Sprache ist ein System willkürlicher Symbole, vermittels derer die Mitglieder einer Kultur alle Aktivitäten dieser Kultur ausführen.“

Aus dem gleichen Grund hatte bereits 1982 der Sprachwissenschaftler Siple angeregt, die ‚Phonologie‘, die traditionell als das ‚Studium der in der menschlichen Sprache vorkommenden Lautmuster‘ bezeichnet wird, künftig als das „Studium der in der menschlichen Sprache vorkommenden sublexikalischen Muster“ zu definieren.


Wer spricht Gebärdensprache?
Die größte Gruppe der Verwender von Gebärdensprache sind die verschiedenen Gehörlosenkulturen überall auf der Welt. Dementsprechend gibt es natürlich eine Vielzahl von Gebärdensprachen.
Interesanterweise scheinen scheinen jedoch „viele der grammatischen Regeln (die Verwendung des Raumes und der nichtmauellen Gebärden zu linguistischen Zwecken, klassifizierende Handformen usw. ) in allen bis jetzt untersuchten Gebärdensprachen sehr ähnlich zu funktionieren“, obwohl sich die individuellen Gebärden (die lexikalischen Einheiten) zum Teil von Gebärdensprache zu Gebärdensprache beträchlich unterscheiden (Penny Boyes Braem, S. 126).
Und erstaunlicherweise sind sich die verschiedenen Gebärdensprachen untereinander viel ähnlicher, als die Gebärdensprache eines beliebigen Landes und ihre jeweilige dazugehörige Lautsprache.
Das heißt, die deutsche Gebärdensprache wäre somit der russischen Gebärdensprache wesentlich ähnlicher, als der deutschen ‚Lautsprache‘,und zwar trotz des Einflusses, den die deutsche Lautsprache und ihre Schrift im alltäglichen Leben für die Gehörlosen besitzt (s. dazu auch Penny Boyes Braem, S. 126 ff).

Aber nicht nur die verschiedenen Gehörlosen-Kulturen sind Verwender der Gebärdensprache. Jean und T. A. Sebeok haben nachgewiesen, daß  auch einige nord-amerikanische und australische Indianerstämme Gebärdensprache verwenden – und zwar Gebärdensprache definitiv im linguistischen Sinn.
Diese Gebärdensprache existiert neben der jeweiligen Lautsprache eines Stammes als Medium zum interkulturellen Austausch der Stämme untereinander;  d. h. sie ist eine gemeinsame Sprache verschiedener Stämme, von denen jedoch jeder für sich eine eigene Lautsprache entwickelt hat. Das heißt, Gebärdensprache ermöglicht hier eine stammesübergreifende Verständigung, die sonst kaum möglich wäre (s. dazu Sebeok & Sebeok Hrsg: Aboriginal sing languages of the Americas and Australia, Vol 2; NewYork: Plenum, 1978)

Zum Begriff ‚Gebärdensprache‘
Ich möchte an dieser Stelle kurz noch anmerken, daß nicht immer begriffliche Klarheit im Kontext von Gebärdensprache herrscht. In den allgemeinen Geisteswissenschaftn wird
‚Gebärdensprache‘ oft als  eine Art non-verbalen Körperausdruck, oder eine Art Pantomime, bzw. gestisches Hilfsmittel verstanden und eben nicht als eine eigenständige  S p r a c h e.
Doch die Gesten, die z. B. in südlichen Ländern oft die Kommunikation begleiten, haben mit Gebärdensprache nichts zu tun

Diese begriffliche Ungenauigkeit hat sicherlich auch damit zu tun, daß das Wissen um Gebärdensprache noch nicht besonders verbreitet ist, da die Forschungen darüber noch relativ jung sind.
Der Amerikaner Stokoe war einer der ersten Sprachwissenschaftler, der sich intensiv mit ihrer Erforschung auseinandergesetzt hat. Sein 1960 veröffentlichtes Buch über die Grammatik der Gebärdensprache ist der erste ernstzunehmende Beitrag seitens der Sprachwissenschaft über Gebärdensprache in diesem Jahrhundert.

Aber nun zur ‚Geschichte der Schrift‘.
Ich möchte dazu ein Zitat von Bourroughs voranstellen (aus ‚understandig media‘):
GESCHICHTE(N)  DER  SCHRIFT

Am Anfang wovon war eigentlich das
Wort, mit dem alles anfing? Am An-
fang der Geschichtsschreibung. Man
nimmt allgemein an, daß das gespro-
chene Wort vor dem geschriebenen
kam. Ich schlage vor, die Sache anders
zu sehen: das gesprochene Wort, so wie
wir es kennen, kam nach dem geschrie-
benen Wort.
(W. S. Burroughs12)

Über die Geschichte der Schrift ist unendlich viel geschrieben worden; zumeist auf eine Weise, die die alphabetisch-phonetische Schrift als Krönung und Endpunkt einer langen Entwicklung begreift, der zahlreiche mehr oder weniger primitive ‚Vorformen‘ vorausgegangen sind (zunächst reine Bilderschriften, dann Zwischenformen, die eine Mischung aus Bilder- und Lautschriften darstellten, dann ‚Silbenschriften‘ und ‚Konsonantenschriften‘).
Der Ägyptiologe Jan Assmann hat darauf hingewiesen, daß diese Sicht auf die Geschichte der Schrift typisch. ‚abendländisch‘ ist und zumeist von okzidentalen Schrifthistorikern verbreitet wird, die zuwenig über orientalische, z. B. ägyptische oder semitische Schriftsysteme und Sprachen wissen und daher deren Möglichkeiten und Fähigkeiten falsch einschätzen.

Auch Derrida  hat einen solchen Blick  auf die Geschichte der Schrift  kritisiert - nicht zuletzt darum, weil ein solcher Blick wie selbstverständlich einem Entwicklungsmodell gehorcht, das davon ausgeht, daß die Schrift nachträglich und sozusagen ‚von außen‘, als ein ‚Störenfried‘ zum geschlossenen System der  Sprache – ( in der Terminologie Aristoteles:) zur angeblichen ‚Einheit von Seele und Wort‘ dazugekommen, bzw.‚dazu erfunden‘ worden ist. Für ihn ist die phonetische Schrift bereits  „in ihrem Ausgang (…) nichts anderes gewesen als ein ursprünglicher und machtvoller Ethnozentrismus, der Aussicht hat, die Herrschaft über unseren Planeten anzutreten… 18 “ (Grammatologie, 1967, S. 29),

Den Anstoß zu seinen Thesen erhielt Derrida übrigens durch die Lektüre von ‚Hand und Wort‘ des Paläontologen Leroi-Gourhan, der auch den Komponisten und Physiker Franco Evangelisti dazu inspirierte, eine Geschichte des Hörens zu erarbeiten14.

Mögliche Anfänge: Leroi-Gourhan


Visuelle und auditive Aneignung von Welt: zwei verschiedene Systeme
Laut Leroi-Gourhan (in ‚Hand und Wort/Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst‘) hat sich die Schrift aus der allmählichen ‚Verschaltung‘  zweier ursprünglich voneinander getrennter Systeme/ bzw. ‚Sprachen‘  entwickelt; die eine war „dem Hörsinn verhaftet und mit der Evolution jener Bereiche verbunden, die für eine Koordination der Töne zuständig sind; die andere beruhte auf visueller Wahrnehmung und war mit der Evolution der Bereiche verknüpft, die für eine Koordination der in materielle graphische Symbole übersetzten Gesten sorgen…“ (in Hand und Wort: Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst‘, S. 262)


Lautbildung und Zeichenbildung

Leroi-Gourhan spricht in diesem Zusammenhang von der allmählichen Herausbildung zweier Funktionspaare (Hand-Werkzeug und Gesicht-Sprache)  zu ‚kooperativen Polen‘ und ihren sich verändernden Beziehungen  (Gesicht-Lesen und Hand-Zeichnen) und schreibt dem Einfluß der Motorik der Hand und des Gesichts für die Ausgestaltung des Denkens zu Instrumenten materieller Tätigkeiten und zu Lautsymbolen entscheidende Bedeutung zu.

In unserem Zusammenhang ist nun Folgendes interessant:
Angeblich soll kurz vor Erscheinen des sogenannten ‚homo sapiens‘ „die Hand in der Schöpfung eines graphischen Ausdrucksmodus Bedeutung erlangt haben, der gleiches Gewicht besaß wie die gesprochene Sprache.“
In diesem Sinne versteht  Leroi-Gourhan zum Beispiel die frühen Höhlenmalereien als Ausdruck der Sprache der Hand, als eine wirklich eigenständige Sprache, als ein eigenständiges System, wenn man so will, ein System, daß  sich komplett manuell- graphisch ausdrückte und  vollkommen unabhängig  war von der angeblich ebenfalls existierenden, der sogenannten ‚gesprochenen‘ Sprache.
Es bestand somit vor unserer   Geschichte ein Zusammenhang zwischen gesprochener Sprache und graphischem Ausdruck, der „durch Koordination und nicht durch Subordination gekennzeichnet“ war.23  Anders ausgedrückt: ‚graphischer Ausdruck‘ und gesprochene Sprache gehörten unterschiedlichen  Systemen an, die einander ergänzten und nicht ausschlossen.
„Das Bild“ (als graphischer  Ausdruck) besaß auf der Stufe „noch eine dimensionale Freiheit, die der Schrift stets fehlen wird; es vermochte den Sprachvorgang auszulösen, etwa die Erzählung eines Mythos, war diesem Vorgang aber nicht verhaftet; sein Kontext verschwindet mit dem Erzähler“. 24
Es „drückte in den drei Dimensionen des Raumes aus, was die phonetische
Sprache lediglich in der einzigen Dimension der Zeit zum Ausdruck bringen konnte“25, bildete den ‚Anstoß‘ für Mythen/für Er-Zählungen, war jedoch in keiner Weise mit der Linearität der gesprochenen Sprache gekoppelt, bzw. in Deckung gebracht.
(Übrigens waren diese Graphische Symbole keineswegs Ab-Bildungen der sogenannten ‚Realität‘, bzw. ‚naive Darstellungen‘ der Wirklichkeit, wie so oft angenommen wird, sondern hatten vielmehr ihren Ursprung in der Reflexion, im ‚abstrakten Denken26 ‘, das uns jedoch auf Grund des fehlenden sprachlich Kontextes unwiederruflich verloren gegangen ist.)
Mit dem Aufkommen der phonetischen Schrift   verloren die graphischen Symbole in gewisser Weise ihre ‚Eigenständigkeit‘, wurden quasi zu Symbolen ‚zweiter Ordnung‘ , zu ‚Ab-bildern‘((!!)  lautlicher Symbole27, zu Zeichen. Gleichzeitig wurde jedoch auch der bis dahin mit den graphischen Symbolen unwiederruflich verbundene mündliche Kontext überflüssig.
Bzw, in den Worten Leroi-Goruhans: Die Leistung der Schrift  bestand eben darin, den graphischen Ausdruck durch die Verwendung der linearen Anordnung  vollständig dem phonetischen  Ausdruck unterzuordnen “.19

Die ägyptische Hieroglpyphenschrift, die als ‚Vorläufer‘ unserer alphabetisch-phonetischen Schrift gilt, hat noch Merkmale der frühen Bilderschriften bewahrt. Jan Assman spricht daher von einem ihr eigenen Doppelcharacter. „Ihre Elemente fungieren sowohl als Zeichen, die sich auf Sprachliches beziehen, als auch auf Bilder, die die Formen der Welt wiedergeben.“ (S. 265 ff) Insofern ist die Hieroglyphenschrift ein komplexes System, das „was ihre sinnliche Präsenz angeht, weit über das gesprochene Wort hinausgeht. In ihr gewinnt Sprache eine vielfältigere, bezugsreichere Wirklichkeit als in der Stimme. Die Alphabetschrift ist demgegenüber ein abstraktes Aufzeichnungsmedium für die Stimme, in der die Sprache ihre eigentliche Präsenz und Wirklichkeit hat.(…)Der Weg zur Schrift führt hier (in Ägypten) nicht nur über die sprachliche, sondern auch über die bildliche Gestaltung und Aneignung von Welt.“ (S. 265 ff)
Diese bildliche Gestaltung und Aneignung von Welt - und damit die eigenständige visuelle Seite von Schrift - geht mit der Durchsetzung der alphabetisch-phonetischen Schrift verloren.
Mit anderen Worten: ein bis dahin komplexes, kon-textuelles Denken und Sein schloß sich unter der Buchstäblichkeit des phonetischen Alphabets allmählich zu ‚Einem Sinn‘ kurz.

Was mit diesem einen Sinn gemeint ist, läßt sich am Beispiel des Birmanesichen  ganz gut verdeutlichen, dessen Schrift in gewisser Weise halb-phonetisch ist. Ihre Orthographie, bzw. die Anordnung der Buchstaben im Raum entspricht nicht der Phonetisierung, dem gesprochenen Lautstrom;  stattdessen gruppieren sich ihre Buchstaben um einen Mittelpunkt herum. Das heißt, das visuelles Bild dieser Schrift gibt nicht nur Lautinformationen wieder, sondern transportiert in der Anordnung der Buchstaben weitere Informationen, dient also als eine Art Stütze für ein Wissen, das im kollektiven Gedächtnis der Birmanesen eingeschrieben ist.
„Im Balinesischen (wie im Birmanesischen) …ist jegliches Wissen um ein Muster herum angeordnet: um einen Mittelpunkt mit vier oder mehr Punkten um ihn herum. Neben den Richtungen des Kompasses wird diese Anordnung mit Körperteilen, Wochentagen, Lebensabschnitten, Farben, Krankheiten, Orten, Berufen und vielem anderen belegt - letzlich mit allen Kategorien des Wissens. Diese Anordnung war eine Gedächtnisstütze für alles Lernen von Generation zu Generation, eine Metapher, die die Welt zusammenhält…“ (A. Miller, S. 59).
Würde man nun die birmanesische Schrift transkribieren, d.h. den Klang ihrer gesprochenen Sprache in ‚unsere‘ lineare phonetische Schrift übertragen, würde jener andere Kontext, den die graphische Anordnung der Buchstaben bewahrte, verloren gehen. Und damit auch ein Teil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses.

Genau darin liegt die Macht  der phonetischen Schrift, von der Derrida behauptet, daß sie dabei ist, die Herrschaft über unseren Planeten anzutreten.
Die phonetische Schrift schreibt ausschließlich einen ‚Sinn‘ fest - den der gesprochenen Sprache - und zwar durch ihre Fixierung auf und des rein Lautlichen. Das heißt, es ist buchstäblich der ‚Ohrsinn‘, der alle anderen Sinne,  auch den ‚Sehsinn‘ - nämlich die visuelle Gestaltung und Aneignung von Welt einfach verdrängt.  Denn im Kontext der alphabetisch-phonetischen Schrift ist der ‚Sehsinn‘ nur noch dazu da, aus den Buchstaben den Sinn der gesprochenen Sprache, die Stimme zu dechiffrieren. Oder wie Flusser sagt: „unsere Alphabete sind Codes, die beabsichtigen, das Sprechen sichtbar zu machen: die Buchstaben sind Zeichnungen, welche Töne (Laute) der gesprochenen Sprache ins Visuelle kodieren.“ (Flusser, S. 41)

Leroi-Gourhan spricht daher von einer „Verengung des Denkens“, die mit der Alphabetisierung der Schrift einhergegangen ist und behauptet, daß wir uns jenes andere Denken, das im Kontext von Bilderschriften existiert hat und „über eine gewissermaßen strahlenförmige Organisation verfügt (hat)“ (S. 247) in unserer Schriftkultur nicht mehr vorstellen können.
„In der Tat bieten sich die ältesten chinesischen Inschriften (aus dem 11. und 12. Jahrhundert  vor unserer Zeit) wie die ersten ägyptischen Inschriften und die aztekischen Glyphen in Gestalt von Figuren dar, die zu Gruppen versammelt sind und den Gegenstand oder die Handlung mit einem Halo versehen, der den verengten Sinn, den die Worte in den linearen Schriften angenommen haben, weit übersteigt. Transkribiert man nan  (der Friede) und kia (die Familie) in Buchstabenschrift, so reduzieren sich die so hervorgerufenen Vorstellungsgehalte auf ihr Skelett. Vergegenwärtigt man dagegen die Vorstellung des Friedens, indem man eine Frau unter ein Dach setzt, so eröffnet man damit eine im eigentlichen Sinne mythographische Perspektive, weil darin weder die Transkription eines Lautes noch die piktographische Darstellung einer Handllung oder einer Qualität zum Ausdruck kommt, sondern die Verschränkung zweier Bilder, die mit der ganzen Tiefe ihres ethischen Umfeldes ins Spiel kommen. Noch deutlicher wird dies, wenn man sieht, daß die Familie durch die Zusammenstellung eines Daches und eines Schweins dargestellt wird: eine prägnanten Verkürzung, die die ganze techno-okönomische Struktur der familialen Gruppe des archaischen China im Hintergrund erscheinen läßt. (…)Wir brauchen lediglich ein modernes Beispiel wie Glühbirne  betrachten, um uns der Flexibilität, die diese Bilder bewahrt haben, bewußt zu werden. Tien-K‘i-teng bedetet für den Sprecher nichts weiter als Glühbirne.  Dem aufmerksamen Leser eröffnet die Zusammenstellung der drei Schriftzeichen „Blitz-Dampf-Beleuchtung“  eine ganze Welt von Symbolen, die das banale Bild der elektrischen Birne umgeben: den Blitz, der aus einer Regenwolke fährt, für das erste Zeichen; den Dampf, der aus einem Topf Reisig aufsteigt, für das zweite zeichen; das Feuer und einen Behälter oder das Feuer und die Tätigkeit des Aufsteigens für das dritte. (…) Ein so banales Beispiel vermag uns aber einen Eindruck davon zu geben, worin das Besondere eines Denkens bestanden haben mag, das vieldimenionale, diffuse Schemata evozierte, und worin es sich von einem System unterschieden haben mag, das die Sprachen fortschreitend in eine phonetische Linearität einzwängt.“ (Leroi-Gourhan, S. 257 ff)

Vielleicht könnte man sagen, daß das Resultat dieses phonetischen Systems eine Denkbewegung ist, die mehr und mehr auf einen Begriff, genauer: auf einen ‚Sinn‘ abzielt, aus dem sämtliche Assoziationsketten getilgt sind. Es ist eine eher eindimensionale Bewegung, die letztendlich auf ein Telos hinausläuft, auf  d e n  Sinn, auf Ursprung, Ende und Wahrheit zugleich. (Alpha und Omega). .

Insofern kann man die Geschichte der phonetischen Schrift mit Fug und Recht als die Geschichte der Idealisierung des Lauts bezeichnen. Vielleicht könnte man mit Derrida sagen, daß der Überang hin zur  phonetischen Schrift - als Beginn ihrer/ und der Geschichte - den Übergang markiert hin zur Übermacht des gesprochenen Wortes, der lautlichen Zeichen! (UNd vielleicht sogar auf eine buchstäbliche Weise, die jedoch Derrida nicht unbedingt im Auge gehabt haben wird.) Denn vielleicht kündet der Übergang hin zur phonetischen Schrift auch vom Übergang hin zur  phonetischen Sprache - zum Laut-Sprechen! Sodaß die  Ablösung von den graphischen Bildersymbolen und der Verschiebung hin zu einer reinen Lautschrift in Wirklichkeit auch einen Wandel des körperlichen Ausdrucks abbildet.

Möglicherweise verwendete der Mensch vor der Durchsetzung der Lautschrift  hauptsächlich eine Körper- und Gebärdensprache und erst an zweiter Stelle eine Lautsprache, das ‚Sprechen‘ in unserem Sinne.

Es vertreten übrigens einige Wissenschaftler die These, und dazu gehört auch der Gehörlose Chrissostomos Papaspyou (in seiner Dissertation ‚GEBÄRDENSPRACHE UND UNIVERSELLE SPRACHTHEORIE‘26,), daß jene Bilderschriften, die der phonetischen Schrift vorausgingen, eine Art der Körper- und Gebärdenschrift gewesen sein können1 .
„Der allgemeine Begriff der Schrift hat auf Grund seiner visuellen Kennzeichen mehr mit der Gebärdensprache als mit der Lautsprache zu tun. Die historische Entwicklung der Schrift reflektiert genau die Phasen, in denen die Schrift in ihrer ursprünglichen Gestalt ein Erzeugnis des Gebärdensprache war, ebenso auch die Übergangsphase, in denen die allmählich mehr und mehr symbolisierte Schrift immer stärker der sich durch den cross-modalen Transfer fortlaufend weiterentwickelnden Lautsprache entsprach und sich ihr anpaßte.“

U.a. beruft er sich auf Alan Gardiner (1950) und Leo Wieger (1965) bei Gordon Hewes (1978, 43), „die den Schluß zulassen, daß in den ägyptischen Hieroglyphen und in den älteren Entwicklungsstufen der chinesischen Schrift der  von Gebärden und visueller Symbolisierung erheblich ist27 .“ (Papaspyrou, S. 27)
Über den Einfluß visueller Symbolisierung ist sich die Wissenschaft einig, über den Einfluß von Gebärden ist jedoch in den gängigen Diskursen nirgends die Rede.
Doch vielleicht ist es wirklich nicht gar so unwahrscheinlich, daß die frühen bildlichen Symbole, die ja in der Tat eine ‚Schrift‘ im Raum darstellte, ein körperliches und Raumgedächtnis wiedergaben, das eng mit einer Körper- und  Gebärdensprache verknüpft war.

Paläontologie der Sprache
(Über einen möglichen Zusammenhang von Sprache und Schrift)
Auch bei Leroi-Gourhan ist über einen möglichen Zusammenhang von Gebärdensprache und frühen Graphismen nichts zu finden, obwohl auch er ja von zwei Sprachen spricht, einer visuell-gestischen und einer auditiv-oralen, die sich im Zuge der Evolution aus den beiden Polen Gesicht und Hand zwei Sprachen entwickelt haben sollen. Allerdings macht die Lektüre von ‚Hand und Wort‘ deutlich, daß Leroi-Gourhan den Begriff ‚Sprache‘ letztendlich doch nur für die ‚auditiv-orale‘ Sprache verwendet  (die visuell-gestische koppelt er mit dem Begriff ‚Technik‘) obwohl er nicht nur immer wieder auf den Zusammenhang von der Befreiung der Hand und der Entwicklung der Gehirnflächen für die Ausbildung von Sprache hinweist, sondern auch auf das Fehlen jeglicher fossiler Spuren, die Auskunft geben könnten über die Art und Weise der Sprache30 und im Kapitel ‚Die Sprache der Prähominiden‘ ausführlich einen Zusammenhang zwischen ‚Nach-unten-Verlagerung des Stimmaparats‘ und Sprache zu widerlegen sucht: „Für die Zeit vor der Ausbildung der Schrift ist eine direkte Erfassung der Sprache nicht möglich. Man hat gelegentlich den Versuch gemacht, die Form des Unterkiefers oder die Bedeutung der Ansatzstellen der Zungenmuskeln mit der Sprache in Verbindung zu bringen, aber solche Spekulationen haben wenig Sinn, denn das Problem der Sprache ist kein Problem der Zungenmuskulatur. Die Bewegungen der Zunge haben eine Bedeutung für die Ernährung, bevor sie phonetische Funktionen übernehmen, und es ist nicht sonderlich wichtig, wenn die Bewegungsfähigkeit der Zunge beim Mauer-Menschen beschränkt gewesen sein soll (…), denn es geht in erster Linie um die neuro-motorische Organisation und um die Qualität der zerebralen Projektions-flächen: das Problem der Sprache liegt im Gehirn und nicht im Unterkiefer.“ (S. 147ff)

Doch wenn man zu Zeiten des Mauer-Menschen bereits Sprache im ‚menschlichen‘ Sinne unterstellt, jedoch die ‚Zungen- bzw. Kehlkopfttheorie‘ dagegen spicht, kann man sich spätestens an dieser Stelle fragen, wieso sich der Mensch, für den die Befreiung der Hand eine der wichtigesten Tatsachen in der Evolution war, nicht eben genau mit dieser ‚befreiten Hand‘ ausgedrückt haben soll - und zwar nicht nur ‚technisch-materiell‘, d.h. in Form von Herstellung von Werkzeugen, sondern auch ‚ideell‘ (im buchstäblichen Sinne), nämlich durch die Bewegung der Hände im Raum31 .

Der Begriff ‚Sprache‘ ist bei Leroi-Gourhan jedoch nicht wirklich geklärt.  Denn seltsamerweise gesteht Leroi-Gourhan der Hand  ‚sprachlichen Ausdruck‘ ab Aufkommen der Graphismen bis zur Phonetisierung der Schrift ja zu, allerdings nur in graphischer Form. Das heißt, für diesen Zeitraum unterstellt er zwei ‚richtige‘ Sprachen; eine, die sich graphisch, mit der Hand und eine, die sich oral ausdrückte. (Allerdings gibt es nur für eine dieser Sprache Zeugnisse, nämlich für die der Hand (die graphischen Symbole);  die andere bleibt hypothetisch, obwohl gerade sie als ‚eigentliche‘ Sprache verstanden wird. )
„Die Hand (erlangte) zu einem bestimmten Zeitpunkt, kurz vor dem Erscheinen des homo sapiens  in der Schöpfung eines graphischen Ausdrucksmodus Bedeutung (…), der gleiches Gewicht besaß wie die gesprochene Sprache. Die Hand wurde so zur Schöpferin von Bildern, von Symbolen, die nicht unmittelbar vom Fluß der gesprochenen Sprache (??)  abhängen, sondern eine echte Parallele dazu darstellen.“ (S. 261)
Aber was bedeutet das? Was heißt eine „echte Parallele“?  Heißt es, daß es ein Denken gab, das sich eigenständig manuell, nämlich graphisch ausdrückte, unabhängig von der Linearität der phonetischen Sprache, unabhängig von ‚laut-sprachlichen Zusammenhängen‘? Heißt es, daß es ein visuelles Verständnis von Welt gab, das unabhängig vom auditiven System war?
Würde aber dann nicht in der Tat einiges dafür sprechen, daß dieses visuelle Verständnis, das sich nachweislich in Form von Graphismen auszudrücken im Stande war,  mit einer Sprache korrespondierte, die selbst visuell war, einer Sprache, die sich auf den Raum bezog und die der ‚oral-auditiven‘ Sprache möglicherweise ebenso wenig untergeordnet war, wie Leroi-Gourhan es von den graphischen Symbolen behauptet?
Anders gefragt: Wieso sollte der Mensch sein Verständnis von Welt, das offensichtlich visuell  war, nicht auch sprachlich (von Angesicht zu Angesicht) visuell ausgedrückt haben?
Und schließlich und endlich: Warum sollte nicht in jeder Hinsicht ein Nebeneinander von visueller und auditiver Sprache - eine „echte Parallele“ -  existiert haben? (Auch Oliver Sacks spricht in seinem Buch ‚Stumme Stimmen‘ von der Möglichkeit zwei paralleler evolutionärer Stränge;  „einen, in dem sich gesprochene, und einen anderen, in dem sich durch Gebärden ausgedrückte Sprachformen entwickelten. Darauf deuten Arbeiten von Anthropologen hin, die eine Koexistenz von Laut- und Gebärdensprache bei einigen Naturvölkern nachgewiesen haben; vg. Lévy-Bruhl 1926.“ (S. 131)
(Dafür sprechen ebenfalls neuere Forschungen aus Australien, sowie die Autismus- und die Primaten-Forschung;  Zimmer hält eine solche These für unsinnig…)
Wie dem auch sei: Von einer phonetischen Sprache kann man erst mit Sicherheit ab Aufkommen der phonetischen Schrift sprechen, da erst ab diesem Zeitpunkt phonetische Sprache tradiert wird. Alle Aussagen über Sprache vor dieser Zeit sind somit gleichermaßen hypothetisch.

Und Gebärdenschrift?
Die Frage, die ich hier anschließen möchte und die zu einigen Gebärdenschriften überleitet, ist folgende: Wenn es stimmt, daß Zeichen beliebig verwendet werden können, wie kommt es dann, daß die Buchstaben der phonetischen Schrift nicht für die Repräsentierung von Gebärdensprache tauglich sind? Und wieso ist letztendlich aus diesem System eine Lautschrift hervorgegangen und nicht etwa eine Gebärdenschrift? (Weil das Inventar der Lautsprachen kleiner ist und derselben Klasse angehört?)
Und weshalb ist es dermaßen schwer, eine Schrift für die Gebärdensprache zu finden? Eine Antwort gibt z. B. der gehörlose Sprachwissenschaftler Papaspyrou: „In jeder beliebigen Lautsprache gehören die Aktualisierungselemente immer derselben Klasse an, sie sind allesamt Phoneme. Falls diese Lautspraceh durch alphabetisierte Schrift dargestellt wird, korrespndieren die Phoneme mit entsprechenden Buchstabengruppierungen oder Graphemen.  In der Gebärdensprache hingegen gibt es mehrere Klassen von Aktualisierungselementen, oder Parametern – Chereme genannt. Die ihnen entsprechenden BUchstabengruppierungen oder Graphe sollen korrespndierende Klassen von Graphemen ausmachen. Mit anderen Worten, das zur Verschrfitlichung der Gebärdensprache verwendete Alphabet muß in Buchstaben verschiedener Klassen aufgtetilet werden, die laut Definition die jeweilig korresponndierenden Grapheme darstellen.“ (S. 31) Übrigens hat Papaspyrou als einziger versucht, eine Gebärdenschrift mit Hilfe der Buchstaben des lateinischen Alphabets zu entwickeln.

Die Zuordnung eines Buchstabens zu einem Cherem ist jedoch nicht etwas kausal motiviert, sondern willkührlich. Sie haben als solche keine Bedeutung. „Das erweiterte lateinische Alphabet mit 29 Buchstaben (12 +3+14), die 24 diakritischen Zeichen und die 17 Interpunktionszeichen machen insgesamt ein Inventar von 70 graphischen Symbolen aus, das für die Verschriftlichung der deutschen Gebärdensprache zur Verfügung steht.“ (S. 71)
Das heißt, die Buchstaben werden hier völlig neu codiert, (= den Cheremen zugeordnet), sodaß sie nur noch ihrer äußeren Erscheinungsform nach an ihre Funktion im  phonetischen Alphabet erinnern. Papaspyrous Schriftmodell ist sehr komplex und durchdacht; allerdings wird bezweifelt, daß es sich auf breiterer Ebene durchsetzen kann. Vielen erscheint es als zu kompliziert und die Verwendung von bekannten Formen, die hier nun auf etwas völlig anderes verweisen sollen, als zu unübersichtlich. Die auf diese Weise ‚geschriebenen‘ Gebärdentexte sind nämlich für Uneingeweihte überhaupt nicht lesbar,  sodaß der angebliche Vorteil, sich auf ‚Buchstaben‘ als eine ‚bekannte Größe‘ zu beziehen,  sich in der Praxis letztendlich als ein Nachteil entpuppt und Verwirrung und Unwillen stiftet.
Abbild des Satzes von Kant in dieser Schrift.

Einer der ersten, der versuchte, Gebärden auf ihre Ausführung hin zu klassifizieren, und dafür eine Notationsform zu entwickeln, war Stokoe. Durch ihn erhielt die Gebärdenforschung den entscheidenden Impuls.
Stokoe kam Ende der fünfziger Jahre als Mediävist und Linguist ans Gallaudet College um gehörlose Studenten in englischer und amerikanischer Literatur zu unterrichten (das Gallaudet College war weltweit die erste Universität für Gehörlose, und ist nach wie vor die einzige, die geisteswissenschaftlich ausgerichtet ist. )
Zu dem Zeitpunkt galt Gebärdensprache allgemein noch als eine Art Pantomime, oder gestisches Hilfssystem oder auch als eine Art gebrochenes Englisch in Handzeichen. Stokoe erkannte recht bald, daß diese Ansicht auf einer absoluten Fehleinschätzung beruhte und machte sich auf, die Gebärdensprache unter linguistischen Gesichtspunkten zu erforschen. Stokoe war davon überzeugt, daß Gebärden nicht nur Abbilder, bzw. ikonische Darstellungen sind, sondern komplexe abstrakte Symbole mit einer eigenen Grammatik.
Sein 1960 erschienenes Buch „Sign language structure“ (Strukturen der Gebärdensprache). war die erste Veröffentlichung, die der Gebärdensprache den  Status einer vollwertigen Sprache zuerkannte.

In diesem Buch versucht Stokoe u.a. der Frage nachzugehen, was überhaupt eine Gebärde ist. und wie man sie definieren könnte. Diese Frage ist bis heute nicht ausreichend beantwortet, ein Zeichen dafür, wie komplex und damit wie schwer beschreibbar allein die Grundelemente von  Gebärdensprache sind.
Weder wußte er zu Beginn seiner Arbeit, welche Bewegungselemente überhaupt das Vokabular dieser Sprache bildeten, noch was ihre kleinste Grundeinheit war.
Denn in der Gebärdensprache gibt es – wie bereits gesagt  - mehrere Klassen von Aktualisierungselementen, oder Parameter (Chereme genannt), während in jeder beliebigen Lautsprache die Aktualisierungselemente immer derselbsen Klasse angehören. Sie sind allesamt Phoneme.
Dazu kam, daß es für Gebärdensprache ja nicht ein Alphabet oder anderes Zeichensystem gab, auf das er sich hätte stützen können. Er mußte also aus dem Nichts Symbole ‚erfinden‘, die geeignet waren, verschiedene von ihm herausgefilterte Bewegungselemente darzustellen.

Nach dem von ihm entwickelten System ist jede Gebärde ein simultanes Ergebnis aus mindestens drei Grundkomponenten:
I.)tab, die Stelle, an der die Gebärde ausgeführt wird (also wo),
II.) dez , die Konfiguration der Hand oder der Hände
III.) sig , die Bewegung der Hand oder der Hände

Ein beliebiges Gebärdenzeichen, das eine Zeicheneinheit darstellt, ist nach dieser Beschreibung eine Handkonfiguration, die an einer Ausführungsstelle eine Bewegung aufweist. (kann Helle eine vormachen?).

Aufbauend auf diesem System wurde in den letzten zwei Jahrzehnten in der Gebärdenforschung intensiv an einer Weiterentwicklung  einer Gebärdenschrift gearbeitet.

In Deutschland (an der Universität Hamburg im Zentrum für Gebärdensprache) wird  seit den 80iger Jahren an einer Computerschrift namens ‚HamNoSys‘ geforscht, bei der die Tabulatur eines Computers (als Keyboard bezeichnet) nicht mit Buchstaben, sondern mit von Handformen abgeleiteten graphischen Zeichen belegt ist. HamNoSys  findet international große Anerkennung,  obwohl es noch nicht in der Lage ist, die nicht-manuellen Ausdrucksformen von Mund, Wange, Augen und Augenbrauen etc. darzustellen. Bei dieser Schrift handelt es sich um eine cherologische Umschrift, die cirka 150 Symbole benötigt. „HamNoSys in seiner bisherigen Form soll eine genaue Übertragung der Gebärden für Forschungszwecke sein, zu vergleichen mit dem phonetischen Alphabet für gesprochene Sprachen. Ham NoSys verwendet zur Notation aller Komponenten
Symbole, die in ikonischer Beziehung zu ihrem Referenten stehen, und verzichtet so auf das Fingeralphabet41 , wodurch die Notation für europäische Forscher relativ einfach zu lernen ist. HamNoSys hat den Vorteil, das es mit Computer geschrieben, gespeichert und gelesen sowie ohne Schwierigkeiten gedruckt werden kann.“  (aus ‚Einführung in die Gebärdensprache und ihre Erforschung‘, Signum-Verlag 1995, Hamburg, S. 30, 31)

Als regelrechte ‚Gebrauchsschrift für Gehörlose‘ wurde das System SingFont  (Mc Intire et a. 1987) entwickelt. Allerdings berücksichtigt es nach Papaspyrou lediglich die cherologischen Aspekte und nicht die grammatischen Beziehungen, „als ob die Gebärdenschrift ein einfaches Abbild der Gebärdensprache sein sollte.“ (S. 38)
Da SingFont   jedoch nur cirka 90 Symbole benötigt, gilt es als relativ anwenderfreundlich. Es kann angeblich „rasch von Hand geschrieben, aber auch mit einer Tastatur eingeben werden.“42  (Penny Boyes Braem, S. 30).

Ich führe diese Schriftversuche hier an, weil sie im vorliegenden Kontext aus mehreren Gründen bedeutsam sind. In gewisser Hinsicht scheinen letztendlich am Modell der phonetischen Schrift orientiert zu sein, an der Engführung von Buchstabe und Laut, an der Engführung von Buchstabe und Stimme. Überspitzt ausgedrückt: auch einer Gebärdenschrift geht es darum, Sprache und Schrift miteinander zu verschalten, bzw. in ein quasi ‚abbildhaftes Verhältnis‘ miteinander zu bringen. Ein solches Verhältnis ist jedoch durchaus nicht selbstverständlich, wie das Beispiel der ägyptischen oder der chinesischen Schrift zeigt45.
Nebenbei zeigen diese Versuche übrigens auch, wie schwierig es ist, innerhalb kurzer Zeit eine Schrift zu entwickeln und durchzusetzen (Zum Vergleich: das erste Notationssystem erarbeitete Stokoe Anfang der 80iger, die phonetische Schrift  hingegen brauchte von ihren Anfängen in Mesepotamien bishin zur lateinischen Buchstabenschrift Jahrtausende, um sich zu etablieren, von den visuellen ‚Vorformen‘ einmal abgesehen.)

Das Einbeziehen der Gebärdensprache birgt - trotz vieler neuer Denkfelder, die es eröffnen hilft57  - gewisse Schwierigkeiten. ^
Der Begriff ‚Gebärdensprache‘, bzw. ‚Gebärden‘ taucht besonders oft in den Debatten um den ‚Ursprung‘ von Sprache auf – und zwar unabhängig vom Forschungsstand um die Gebärdensprache.
Es sei an dieser Stelle nur ein Beispiel gegeben: So heißt es bei dem Kulturwissenschaftler Horst Wenzel in seinem Buch ‚Hören und Sehen‘:
„Ontogenetisch und Phylogenetisch sind die Körpergebärden als Mittel der Verständigung älter, als die Sprache, und es ist überraschend zu sehen, in welchem Ausmaß ‚die Sprache der Körpers‘ noch heute die Umgangssprache beherrscht.“
(in ‚Hören und Sehen‘, S. 159).

Doch was ist damit wirklich gemeint? Heißt es, daß die ‚richtige‘ Sprache sich aus einer Körper/ bzw. Gebärdensprache heraus entwickelt hat, die man als ‚Vorform‘ von Sprache betrachten muß, die jedoch selbst noch keine Sprache im linguistischen Sinn darstellt?  Oder ist gemeint, daß Gebärdensprache v o r  dem Aufkommen der ‚Lautsprachen‘ bereits als vollwertiges linguistisches System existiert hat?

Der gehörlose Sprachwissenschaftler Papaspyrou geht genau davon aus. In seinem Buch ‚Gebärdensprache und universelle Sprachtheorie‘ versucht er nachzuweisen, daß und wie sich Lautsprache aus einer Gebärdensprache – verstanden als vollwertiges linguistisches System - entwickelt hat.
Übrigens wird seine These unterstützt durch die Evolutionsgeschichte, nach der sich‚unser Stimmaparat‘ erst ganz allmählich herausgebildet, nämlich nach unten verlagert hat. Differenziertes Lauten, d.h. ‚normales‘ Sprechen, war erst ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Menschen überhaupt möglich.
Interessanterweise gehen viele Wissenschaftler davon aus, daß diese nach-unten-Verlagerung zeitverzögert zur Entwicklung des Sprachvermögens vor sich ging. Mit anderen Worten: der Mensch soll bereits mental sprachliche Fähigkeiten zu einem Zeitpunkt besessen haben, an dem er noch nicht in der Lage war, ‚richtig‘ seinen Stimmapparat zu gebrauchen, das heißt, richtig zu ‚Lauten‘. Das würde einmal mehr für die These von Papaspyrou sprechen (s. dazu Leroi-Goruhan).
Die Entwicklung hin zur Lautsprache hat sich seiner Ansicht nach in der Ontogenese durch einen sogenannten ‚Cross-modalen Transfer‘ ergeben.
„Der cross-modale Transfer kann und muß also als Ausdruck der Notwendigkeit interpretiert werden, die Unverträglichkeit der anfänglich spontan realisierten Gebärdensprache mit bestimmten biologischen Bedingungen durch die anschließende Entstehung der Lautsprache aufzuheben. Es braucht nicht viel Phantasie und keine aufwendigen Spekulationen, um sich auszumalen, welche Bedingung in Frage kommen könnte: das Überlebensprinzip. Zu Zeiten der ersten Vertreter unserer Spezies, wo oft eine bestimmte Aktivierung der Hand Leben oder Tod bedeuten konnte, ist klar, daß di8e Hand keine Chance hatte, sich als Manifestation anderer Möglichkeiten zu etablieren)

Auch bezüglich der Ontogenese sind sich erstaunlich viele Autoren darüber einig, daß Kinder zunächst gebärden, bevor sie anfangen, ‚Laute‘ zu sprechen. Doch auch hier bleibt zu fragen, was tatsächlichen mit ‚gebärden‘ in diesem Kontext gemeint ist. Gebärden im Sinne einer vollwertigen Sprache? Oder im Sinne von reinen Zeigegesten etc. ?

Ein Großteil der Sprachwissenschaftler, die sich mit ‚Gebärdensprache‘ befassen, geht von ersterer Annahme aus, meint also, daß Kinder, die mit Gebärdensprache aufwachsen, in der Tat wesentlich früher ‚Sprechen‘ – d.h. ‚Gebärden‘ -  können, als Kinder, die mit ‚Lautsprache‘ aufwachsen.
Eines der Hauptargumente  ist auch in diesem Zusammenhang die Physiologie: einerseits der sich erst im zweiten Lebensjahr allmählich nach unten verlagernde Stimmapparat und zum Anderen der Umstand,  daß zum Gebärden ganz andere, weitaus leichter zu kontrollierende Nerven –und Muskelpartien  benötigt werden, als beim ‚Sprechen‘.
1972 wurde eine Studie veröffentlicht (Schlesinger & Maedow), nach der ein Kind seine erste Gebärde bereits in einem Alter von 5 1/2 Monaten vollbracht haben soll. Und bei Papasyprou heißt es:  „Ein gehörloses Kind gehörloser Eltern besitzt mit 10 Monaten schon einen Gebärdenschatz von 20 Gebärden und produziert schon Zwei-Gebärden-Äußerungen in einem Alter, wo das hörende Kind hörender Eltern sein erstes Wort äußerst.“ (Papaspyrou 1990, S. 93).

Allerdings sind diese Äußerungen von dem Forscherteam um die italienische Sprachwissenschaftlerin Volterra mittlerweile relativiert worden, auch wenn die besonders faszinierenden immer wieder irgendwo zitiert werden. Auch Oliver Sacks kann nicht umhin, von jenem Kind zu berichten, daß angeblich im Alter von 5 1/2 Monaten bereits den Begriff  ‚Milch‘ zu gebärden in der Lage ist.

In ihrer Studie von 1986 weist Volterra nach, daß das Erlernen der Gebärdensprache in etwa einen gleichen Verlauf nimmt, wie das Erlernen der Lautsprache – vorausgesetzt, es handelt sich dabei um die Muttersprache – und daß jene Studien, die von einem früheren Erwerb der Gebärdensprache sprechen, etwas als `Gebärde‘ bezeichnet hatten, was eigentlich als ‚Geste‘ hätte bezeichnet werden müssen, parallel zu den Unterscheidungen zwischen ‚Wörtern‘ und ‚Vokalisierungen.‘
„Ein Kind von 10 Monaten benutzt zum Beispiel die Laute kl, kl, wenn ein Erwachsener eine ritualisierte Frage wie Wie geht das Pferd (= Wie klingt es, wenn ein Pferd vorbeigeht) stellt. Dieser Laut wird als Vokalisierung klassifiziert. Interessanterweise produziert ein Kind im gleichen Alter immer die gleiche Geste des sich mit ausgestreckten Armen drehenden Oberkörpers, wenn ein Erwachsener es zu tanzen auffordert.  Nach Volterrra ist sowohl die Entwicklung des Vokalisierung zum Wort als auch diejenige von einer Geste zur Gebärde als ein ‚Dekontextualisierungs-Prozeß‘ zu verstehen.
Interessanterweise verläuft bei hörenden Kindern bis zu 13 Monaten die Entwicklung und Ausbildung von Gesten und Vokalisierungen parallel. Das heißt, die Sprachpotentialität beider Sprachen, einer visuellen und einer auditiven ist im Menschen angelegt und es ist nur eine Frage der sprachlichen Umgebung, welche dieser Sprachen sich ausbildet. Erst nach circa 13 Monaten werden bei hörenden Kindern, die mit Laut-Sprache aufwachsen, die Gesten vernachlässigt und sie treten in eine Phase der allmählichen Wortbildung ein. Würden sie hingegen mit Gebärdensprache aufwachsen, würden sie dementsprechend in eine Phase der Gebärdenbildung eintreten.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf eine meiner eingangs genannte These zurückzukommen, die hieß, daß die Geschichte der phonetischen Schrift mit der  Verdrängung einer ganz bestimmten Form der Visualität einhergegangen ist.
Die Geschichte der Schrift zeigt, daß es eine Form der Visualität gegeben hat, die von der gesprochenen Laut-Sprache unabhängig war (die frühen Graphismen).
Das Beispiel der ägyptischen Hierogplyphen und der Chinesischen Schrift machte auch deutlich, daß es eine Phase der Coexistenz von  visuellem und phonetischem Zugang zur Welt gegeben hat. Derrida spricht daher von der chinesischen Schrift auch als eine mächtige Zivilisationsbewegung, „die sich außerhalb jedes Logozentrismus entfaltet hat. Die Schrift reduziert dort die Stimme nicht auf sich selbst, sondern ordnet sie einem System zu.“  Das Auge hat demnach eine andere Funktion, als die des Dekodierens von graphischen Zeichen in lautliche Zeichen.
Als würde mit der phonetischen Schrift ein ganz bestimmter visueller Zugang zur Welt abgeschnitten worden. Das Sehen scheint aus seinem eigenständigen visuellen Bereich verdrängt zu werden, um nur noch Sprachsymbole zu dekodieren…

Aber vielleicht könnte man behaupten, daß der Schauplatz dieser Verdrängung in erster Linie die Schrift war, das heißt daß sich diese Verdrängung tatsächlich in erster Linie auf ‚graphischer Ebene‘ vollzogen hat.  Zum Beispiel weist Horst Wenzel in seinen Studien zu Kultur und Gedächtnis im Mittelalter (‘Hören und Sehen - Schrift und Bild‘, München 1995) nach, daß noch„im Mittelalter das kulturelle Wissen personal bezeugt und übertragen (wird). Dabei ist das Wort nur eine von vielen Möglichkeiten der Verständigung. (…).Zeichen (Memorialzeichen, heilige Reliquien, Herrschaftsinsignien) und sozial eingeübte Handlungen, Gesten und Gebärden tragen die kulturelle Überlieferung  und befestigen sie zugleich im Gedächtnis.56 “ (‚Hören und Sehen/ Schrift und Bild‘ Klappentext). Gebärden, körperliche Zeichen etc., also Körper- und Raumsprache  schlechthin waren - glaubt man Wenzel - in Zeiten, in  denen die phonetische Schrift (und damit die phonetische Sprache?) sich noch nicht wirklich durgesetzt hatte, selbstverständliche Kommunikations- und Aufzeichnungsmedien.  Die Vernetzung der Stände und der Gemeinschaft z. B.  fand via Körpersprache, bzw. körperlicher Zeichen statt.
Das heißt,  im Mittelalter war die Schrift noch nicht das entscheidende  Aufzeichnungsmedium  und ‚Lautsprache‘ nur eine Sprache unter anderen. Daher spricht Wenzel von einer Epoche der ‚multisensorischen Mündlichkeit‘ und behauptet, daß das Primat des Sehens im Mittelalter nicht in erste Linie durch die Schrift auf, sondern durch Körpersprache zu Stande kam.
„Die Prämierung des Sehens ist deshalb keineswegs erst Konsequenz des Buchdrucks und kein Characteristikum der frühen Neuzeit. In einer Gesellschaft, in der die Fähigkeit zum Lesen keineswegs selbstverständlich war, mußten viele Funktionen der Bewahrung und Tradierung durch die lebendige Erinnerung übernommen werden.“ (Wenzel, S. 32).

Insofern läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß mit Durchsetzung der Schrift körpergebundene Sprachen (um in der Begrifflichkeit Wenzels zu bleiben) mehr und mehr verdrängt wurden. Und vielleicht hilft die Beschäftigung mit dem  ‚Spzialfall‘ Gebärdensprache, diesen Umstand zu verdeutlichen.
Übrigens werden selbst heute noch 70 Prozent der Informationen in der Kommunikation ‚von Angesicht zu Angesicht‘, das heißt non-verbal übertragen - auch wenn es sich bei der Non-Verbalen Kommunikation nicht um Gebärdensprache handelt.

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