Iris ter Schiphorst: in Neue Zeitschrift für Musik 2003/05 Eurydike oder Der Topos des Verschwindens. Die Komponistin Iris ter Schiphorst im Gespräch mit Frank Kämpfer

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Auszug:

Frank Kämpfer: Hat Eurydike – kulturell gesehen – wirklich nur die Funktion, als Frau zu verschwinden? Im Orpheus – Mythos, so wie wir ihn kennnen, ist die Frau auch Auslöser und Gegenstand von Kunst und Kultur…

I.t.S.: Die abwesende, verschwundene, möglichst ferne Frau ist das, nicht die real erreichbare. Wie heißt es bei Edgar Allan Poe? Der Tod einer schönen Frau sei „das poetischste Thema der Welt“! Das ist ein Topos, der sich, soweit wir zurückschauen, durch die ganze abendländische Kulturgeschichte zieht. Immer muss eine Frau sterben, damit eine Geschichte in Gang kommt. Damit wir beginnen zu fühlen. Das gilt für die Musikgeschichte, für die Literatur wie auch für die Kunst. Die Verbindung von einer schönen toten Frau und einem Künstler, der darüber singt, schreibt malt oder wie Freud eine Todes-Theorie darauf aufbaut – das ist ein Leitmotiv unserer europäischen Kultur. Und das ist darum so ungeheuerlich, weil es auch an den realen Tod von Frauen gekoppelt ist.

F.K.: Gesetzt den Fall, eine weibliche Leiche ist der Motor einer geschlechterspezifisch männlichen Kunstproduktion – was ist dann der Anlass für Frauen zu schreiben, zu malen, zu komponieren? Sind Kunstwerke aus weiblicher Hand frei von Verlust, Leid und Tod?

I.t.S.: Schauen wir einmal in die Literaturgeschichte. Virginia Woolf hat in ihrem berühmten Essay ‚A Room of One’s Own’ eine tote Frau zum Grund ihres Schreibens gemacht. Und zwar eine fiktive Schwerster Shakespeares. Woolf fragt, was gewesen wäre, wenn diese fiktive Frau geschrieben hätte. Sie zeichnet eine ganz entsetzliche, aber sehr realistische Geschichte von einer Frau, die aus historisch festzumachenden Gründen untergegangen wäre. Für Woolf ist diese fiktive Frau gleichfalls eine Art Muse – aber mit dem Unterschied, dass sie versucht, diese Muse zum Leben zu erwecken. Es geht in diesem Fall also nicht um die Verzweiflung des Künstlers über das Verschwinden, sondern darum, jemanden realer werden, jemanden als realen Menschen auferstehen zu lassen - eine umgekehrte Bewegung.
Auch Ingeborg Bachmann war sich sehr bewusst über das Auslöschen von Künstlerinnen in unserer Zivilisation. In ihrem berühmten Todesarten–Projekt wird das geradezu exzessiv zum Thema gemacht. Tragischerweise haben sich beide Autorinnen letztendlich dann selbst ausgelöscht.

F.K.: Bedeutet das, dass Frauen, die schreiben, malen oder wie in Ihrem Fall komponieren, existentiell grundsätzlich gefährdet sind? Worin begründet sich das?

I.t.S.: Ingeborg Bachmann hat das im ‚Fall Franza’ beschrieben. Franza bringt sich letztendlich um, weil sie bereits zuvor von ihrem Mann und in der Gesellschaft als eigenständiges, reflektierendes und produzierendes Wesen ausgelöscht worden ist. In dem die Bachmann eine solche Geschichte beschreibt, begibt sie sich selbst in eine gefährliche Situation. Zum einen beschreibt sie von einem außenstehenden Standpunkt, wie weibliche Identität vernichtet wird. Zum anderen hat sie als schreibende Frau genau das immer wieder erlebt. Das von ihr minutiös Beschriebene gilt also auch für sie selbst und das ist eine entsetzliche psychische Gefährdung.
Es scheint mir kein Zufall, dass sich Schriftstellerinnen, die an dieser Thematik arbeiteten, wie Anne Sexton, Sylvia Plath, aber auch Ingborg Bachmann, aus dieser Konstellation heraus umgebracht haben. Der Topos des Verschwindens als Topos des Sterbens. Sexton und Plath trieben das auf die Spitze, erst in der eigenen Schrift und dann am eigenen Körper.

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