Vortragsmanuskript /Auszug gehalten im Januar 2011 in der Philharmonie Berlin
Neu…


Ich hatte ja schon vorhin schon angedeutet, dass das Komponieren auch indirekt davon beeinflusst wird, von wem der Auftrag kommt , d. h. in welcher Szene die Uraufführung gespielt wird, und damit auch von der Frage: was der Code dieser Szene ist ? Was ihre Erwartungshaltung an die Komposition? Ihr Bewertungsmaßstab?
Hauptauftraggeber für Kompositionen ‚neuer Musik’ sind Spezialensembles und  vor allem Festivals für Neue Musik.
Es gibt ja in Deutschland eine ganze Reihe von diesen Festivals, zum Teil mit langer Tradition. Das besondere dieser Festivals ist:  sie haben sich ganz und gar der ‚neuen Musik’ verschrieben. Daher ist auf diesen Festivals die Währung buchstäblich ‚das Neue’. Mit anderen Worten:  sowohl Auftraggeber als auch Publikum haben – unausgesprochen – eine ganz bestimmte Erwartung an eine Komposition. Sie soll vor allem ‚neu’ sein, allerdings in einem ganz bestimmten Sinne ‚neu’ (denn erst einmal ist ja jede ‚frisch’ komponierte Musik handwerklich-technisch gesehen ‚neu’); das in der Neuen Musik-Szene gemeinte ‚neu’ ist jedoch eines in der Art von ‚noch nie da gewesen, noch nie gehört,’.
Das  heißt erwartet wird ein ‚Neues’, das nicht einfach nur ‚aktuell gefertigt’, sondern in jeder Hinsicht ‚neu’ -  also ‚erst- oder: einmalig’ ist: handwerklich, formal, inhaltlich, klanglich etc.
Mit anderen Worten: eine in diesem Sinne ‚neue Komposition’  soll sich möglichst deutlich unterscheiden sowohl von der Vielzahl anderer ‚neuer Kompositionen’, für die ja aber auch das gleiche, die gleiche Erwartungshaltung gilt, als auch von ehemals ‚neuen’‚ also mittlerweile alten Kompositionen. Das ‚Neue’ ist somit Erwartungshaltung Nummer 1 in der ‚Neuen Musik-Szene’. Doch natürlich ist das Neue nach kürzester Zeit schon wieder alt, - sodass das Bedürfnis nach Neuem unaufhörlich weiter geht. (Allerdings – und das ist entscheidend, und so wird uns auch die Geschichte der Neuen Musik präsentiert - erscheint das Neue immer unausgesprochen zugleich auf der Folie eines  ehemals Neuen, das heißt, das alte Neue ist in gewisser Weise immer Grundlage und Maßstab für das ‚neue Neue’)
Niklas Luhmann interpretiert  diesen Fortgang, diesen scheinbar unendlichen Prozess immer wieder ‚Neues’ auf der Folie des ehemals Neuen zu generieren, als eine Form der Verpflichtung zur Fortsetzung und spricht in diesem Zusammenhang sogar von ‚Evolution’. Eine Evolution innerhalb des autonomen Funktionssystems Musik, denn diese Art der Fortschreibung garantiert den ungebrochenen Fortgang der Neuen Musik und suggeriert zugleich ihren linearen Fortschritt.
Interessanterweise war nicht von jeher ‚neue’ Komposition mit dem Anspruch des in diesem Sinne ‚Neuen’ belegt. Dieser Anspruch manifestiert sich erst allmählich mit dem Aufkommen der Moderne und der neuen Rolle der Kunst in der modernen Gesellschaft. Insofern ist das Primat des ‚Neuen’ für eine Komposition kein ‚Naturgesetz’, sondern Merkmal einer bestimmten Auffassung von Kunst in einer bestimmten Gesellschaftsform.
(Allerdings – so Niklas Luhmann an anderer Stelle, müsse sich das Funktionssystem Kunst sehr wohl die Frage gefallen lassen, wohin es führt, wenn es sich geradezu monomanisch auf die Unterscheidung von alt und neu kapriziert als ihrem wichtigsten Bewertungsmaßstab /Schriften zur Kunst und Literatur, S. 348.
Ob es allerdings ein in diesem Sinne Neues ohne Altes geben kann, d.h. ohne eine Unterscheidung von alt /neu kann allerdings bezweifelt werden.)

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